Was man von Ariel Scharon lernen kann
Ariel Scharon war fast der letzte seiner Art. Eine überlebensgroße Figur aus jener israelischen Gründergeneration, die das Fundament legte für eines der erfolgreichsten Projekte der Nationenbildung der jüngeren Geschichte. Dieses Projekt ist nicht vollendet, solange Israel nicht in anerkannten Grenzen lebt und seine Nachbarn nicht ihren Frieden mit dem jüdischen Staat gemacht haben. Aber das Leben und Wirken Scharons, mit all seinen Fehlern, hält doch einige Lehren bereit, die auch über Israel hinausreichen.
Eine davon ist: das Führungspersonal einer Gesellschaft ist entscheidend. Geschichte wird immer noch von Menschen gemacht. Und wenige Figuren hatten im Guten wie im Schlechten solch einen prägenden Einfluss auf Israels Entwicklung wie Scharon. Er hat sein Land zwei Mal gerettet. 1973, als er in einer hasardeurhaften Aktion mit seinen Panzerdivisionen über den Suezkanal setzte, Ägyptens 3. Armee einkesselte und damit maßgeblich beitrug, eine drohende Niederlage in einen Sieg zu verwandeln. Und nach seiner Wahl zum Premier 2001, als er mit harter Hand den Terrorkrieg der Palästinenser gegen die israelische Zivilbevölkerung eindämmte und einer zutiefst verunsicherten und erschütterten Gesellschaft Stabilität und Zukunftszuversicht zurückgab.
Andererseits führte Scharon Israel auch ins Unglück, 1982 als Verteidigungsminister etwa, als er seinen Premier im Dunkeln ließ über das wahre Ausmaß der von ihm befehligten Militäraktion im Libanon. Ein Besatzungsabenteuer, das 18 Jahre andauern sollte, viele Opfer forderte und Israels Bild im Ausland schwer beschädigte. Ähnlich verhielt es sich mit der Siedlerbewegung. Was von Scharon in den 70ern vor allem als Mittel der strategischen Absicherung Israels gedacht war, wurde dann zu einem ideologischen Mühlstein, der die Handlungsfähigkeit der israelischen Politik in Friedensfragen bis heute einengt und auf der Rechten geradezu zu einer Obsession geworden ist.
Die zweite Lehre, die Scharon wie kaum ein anderer verkörperte: militärische Stärke ist die wichtigste Währung im Nahen Osten und wird es auch in Zukunft bleiben. Man muss sich nur ansehen, was Araber Arabern derzeit in Syrien antun, um sich vorstellen zu können, welches Schicksal wehrlose Israelis in der Region erleiden würden. So sehr sich die Europäer auch einreden mögen, dass wir in einer Welt leben, die von internationalen Normen und nicht von kruder Macht geprägt ist, so sieht die Wirklichkeit doch anders aus, nicht nur im Nahen Osten.
Scharon stand für ein illusionsloses Realitätsprinzip. Selbst als er sich dazu durchgerungen hatte, den Gaza-Streifen zu räumen, so bedeutete es keineswegs, dass er sich die andere Seite schön malte, wie das in den 90er Jahren in der Hochzeit des Osloer Friedensprozesses so oft geschehen war. Wenn Israel durch das Verlassen besetzter Gebiete an strategischer Tiefe verlor, so musste dieser Verlust an Sicherheit aufgewogen werden durch eine verschärfte Abschreckungsdoktrin, so seine Überzeugung.
Denn wenn Israel in den Augen seiner Feinde als schwach dastünde, würden diese das als Einladung sehen, per Abnutzungskrieg statt mit politischen Kompromissen mehr zu bekommen. Israels Militäraktionen gegen die Militanten in Gaza in den vergangenen Jahren sind die logische Folge von Scharons Rückzug, weil Abschreckung die verloren gegangene strategische Tiefe ersetzen muss. Wer den Israelis das Recht dazu abspricht, wie viele Europäer, macht ihnen damit nur deutlich, dass ein Rückzug aus der strategisch sehr viel wichtigeren Westbank ein Risiko wäre, das sie besser nicht eingehen sollten.
Scharon stand lange für eine expansive und aggressive Vorneverteidigung seines Landes. Irgendwann hatte jedoch auch der Bulldozer Scharon eingesehen, dass militärische Stärke allein nicht reicht. Aus dem Eroberer von Territorien wurde ein Verwalter des Rückzugs.
„Als jemand, der in allen Kriegen Israels gekämpft und und aus eigener Erfahrung gelernt hat, dass wir ohne die richtige Macht nicht die Chance haben, in dieser Region zu überleben, die keine Gnade mit den Schwachen zeigt, so habe ich doch ebenfalls aus Erfahrung gelernt, dass das Schwert allein den bitteren Konflikt in diesem Land nicht lösen kann“, so begründete Scharon 2004 vor der Knesset den Rückzug aus Gaza. Das markierte die wohl erstaunlichste politische Transformation der israelischen Geschichte. Und dennoch bestätigte es nur abermals eine alte Lehre des Nahostkonflikts: es sind meist die ehemaligen Hardliner bei den Israelis, die Schritte zur Lösung des Konfliktes unternehmen.
Das galt für Likud-Chef Menachem Begin, der 1979 Frieden mit Ägypten schloss, genauso wie für die linken Falken Jitzchak Rabin, der 1993 das Oslo-Abkommen mit den Palästinensern unterschrieb, und Ehud Barak, der den Palästinensern 2000 in Camp David zum ersten Mal einen eigenen Staat anbot. Es gibt nicht wenige, die glauben, Scharon hätte einen historischen Kompromiss mit den Palästinensern ausgehandelt, wenn der Schlaganfall ihn nicht vorher gestoppt hätte. Auch wenn er nicht gerne vom „Frieden“ sprach, sondern lieber vom „Nichtangriffspakt“.
Man sollte also die Wandlungsfähigkeit von israelischen Hardlinern nicht unterschätzen. Es ist eine Sache, in der Opposition oder als unbedeutender Minister die reine ideologische Lehre zu verkünden. Eine andere ist es, wenn man einmal auf dem Stuhl des Premierministers sitzt und für das Schicksal eines von der Geschichte gebeutelten und von den Nazis fast ausgelöschten Volkes volle Verantwortung trägt.
Eine Mehrheit der Israelis vertraut darauf, dass ehemalige Sicherheitsfalken keinen Visionen vom Frieden anhängen, die sich später als gefährliche Luftschlösser entpuppen. Ein Vertrauensvorschuss, die die Begins, Rabins, Baraks und Scharons zu nutzen wussten, als sie ihre historischen Schritte hin zu einem Kompromiss unternahmen. Auch einem Benjamin Netanjahu würden die Israelis abnehmen, die Balance zu halten zwischen Sicherheit und Risiko, zwischen Kompromissbereitschaft und strategischer Absicherung, zwischen Realismus einerseits und der Bereitschaft, die Zukunft Israels aktiv zu gestalten – wozu eben auch gehört, sich die Zukunft vorstellen zu können als eine, die nicht nur die Fortsetzung der gegenwärtigen Unausweichbarkeiten ist.
Scharon war nicht wirklich ein anderer geworden, als er sich zum Rückzug aus Gaza durchrang. Er war weiter von der fundamentalen Feindschaft der Araber gegen Israel überzeugt und von ihrer Unfähigkeit, das nationale jüdische Projekt in ihrer Mitte zu akzeptieren. Aber seine Kosten-Nutzen-Rechnung hatte sich verändert. Und sein Glaube daran, dass Israel auf Dauer über ein anderes Volk würde herrschen können, ohne die eigene Demokratie zu gefährden.
All diese Erwägungen sind weiter gültig. Nicht ausgeschlossen also, dass auch Netanjahu irgendwann den inneren Scharon in sich entdeckt. Dann bräuchte es allerdings immer noch eine Palästinenserführung, die ihrerseits endlich einmal staatsmännische Verantwortung für das Schicksal ihres Volkes übernimmt. Das ist im Zweifel die viel größere Hürde.